Vom Schweigen
- Annabell S.
- Apr 28
- 6 min read
Updated: May 17
Es war Juli und Rom war der heißeste Fleck auf Erden; zumindest für die deutschen Studenten, die die italienische Sonne nicht gewohnt waren. Im Garten des Klosters aber war es angenehm mild. Die Steine der alten Gänge, die in einer Reihe geschwungener Bögen den Hof umsäumten, waren tagsüber angenehm kühl, während nachts eine wohlige Wärme von ihnen ausging. Die Nonnen waren sehr freundlich und stellten Kurzzeitunterkünfte zur Verfügung, die preislich im Rahmen eines studentischen Budget lagen. Der Weg zur Universität war nicht weit, ein Fußweg von einer Viertelstunde, der durch viele kleine Gassen oder die Hauptstraße entlang über einen großen Marktplatz führte. Das erste Mal traf ich dich in der Cafeteria der Universität. Als Gruppe von Austauschstudenten sind wir gerade über den Campus geführt worden und legten nun eine Mittagspause ein. Beim Essen saßen wir zu acht an einem Tisch, du setztest dich mit ein paar Freunden dazu. Ich hab deine Blicke bemerkt, aber sie zunächst als eine Einbildung von mir abgetan. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass jemand wie du sich für mich interessieren könnte, dass ich überhaupt durch irgendetwas deine Aufmerksamkeit hätte erregen können. Der Gedanke erschien mir absurd. Ich war also sehr überrascht als du mich auf einen Kaffee einludst. Alleine. Abseits der Uni. Du sahst sehr gut aus, warst schick gekleidet und außergewöhnlich charmant. Wir führten viele anregende Gespräche an diesem Nachmittag, völlig zwanglos; auch wenn mein Italienisch nicht sonderlich gut war (genau wie dein Deutsch) und wir, obwohl wir uns bemühten, immer wieder ins Englische zurückfielen. So sprachen wir stundenlang. Und ich spürte immer wieder deine Blicke. Das Gefühl, das sie in mir auslösten, konnte ich nicht ignorieren, nicht von mir abstreifen. Du warfst sie zwischen deinen Sätzen wie Netze aus und ich verfing mich in ihnen. Ich hätte schon sehr gut schauspielern müssen, um vor dir zu verstecken wie sehr ich dich mochte. Aber das wollte ich auch gar nicht. Ich war lieber offen mit dir, ich hatte das Gefühl, dass ich mit dir offen sein konnte. Du solltest aus meinem Gesicht lesen, meinem Lächeln, meinen Augen, meiner Stimme, wie sehr ich dich mochte.
Unser erster Kuss folgte wenige Treffen später. Und in diesem Moment fragte ich mich, wie ich so lange darauf hatte warten können. Es war Abend, die ersten Straßenlaternen begannen zu leuchten, du legtest deine Lippen auf meine und plötzlich überkam mich ein Hunger, den ein einziger Kuss bald nicht mehr zu stillen vermochte. Vergingen so Stunden oder Tage? Ich weiß es nicht mehr. Einzig der Geschmack deiner Lippen ist mir in Erinnerung geblieben, ihre Süße, ihre Wärme und dein Duft. Du drücktest sie auf meinen Hals und ich wünschte mir, dass die Flecken ewig blieben, damit ich mich jedes Mal beim Blick in den Spiegel an dich erinnern könnte. Wir sprachen wie Vertraute miteinander, trotz der Fremdheit, die uns eigentlich Hemmungen hätte aufzwingen müssen. Man konnte sich ja schließlich auch nicht kennen nach so wenigen, kurzen Wochen. Aber wir taten es. Bei Gott, wir taten es. Und dann waren da die Nächte, die warm waren und still. Vor der ersten hatte ich mich gefürchtet. Ich wollte das Tor des Klostergartens für dich öffnen, dich hereinlassen als längst schon alle schliefen und die Lichter im Garten erlöscht waren. Nur von der Straße aus fiel ein matter Schein über die Mauern. Ich fand deine Silhouette hinter dem alten Eisentor. Du flüstertest meinen Namen in das Dunkel des Gartens. Ich lief zu dir. Mein Herz schneller als meine Schritte. Ich öffnete das Tor einen Spalt breit, damit du hindurch schlüpfen konntest. Du gabst mir einen Kuss. „Non qui“, hauchte ich und hatte Mühe mich von dir loszusagen. Du nicktest, ich ergriff deine Hand und lief leisen Schrittes los. Mir war als wäre ich in Trance. Ich führte dich in mein Zimmer. Das Fenster war geöffnet, die kühle Abendluft zog herein und fiel zu Boden. Um es zu schließen, blieb keine Zeit. Wir küssten uns. Unsere Berührungen waren rücksichtslos und sanft zugleich. Und der Duft, der an deiner Haut hing – ich hätte sterben können für diesen Duft. Wir hatten uns irgendwie zum Bett gefunden, ohne über etwas zu stolpern. Es war bemerkenswert wie du dich auf einmal zügeln konntest, wie du plötzlich innehieltest und mich ansahst. Auch wenn es dunkel war, ich konnte deinen Blick auf meiner Haut spüren, dein Lächeln auf meinen Lippen. Als du die Knöpfe meiner Bluse öffnetest, warst du dabei zärtlich. Ich stellte mir vor, wie du meine Brust mit einem Messer aufschneiden und mit der gleichen Zärtlichkeit mein Fleisch teilen würdest, um geradewegs mein Herz zu fassen. „Nimm es“, hätte ich gesagt, „Es gehört ohnehin dir.“
Ich war wie im Rausch zu dieser Zeit. Und jede Nacht war eine neue Form des Wahns, aber eine die ich willkommen hieß, die ich nicht hätte missen wollen und die ich mir nie hätte nehmen lassen. Unsere Liebe war der Sommer, ausdauernd und überwältigend, lebendig und brennend. Sie war Irrsinn. Ganz realer, schonungsloser Irrsinn. Stärkte oder schwächte sie mich? Ganz gleich, ich würde untergehen, ob ich jetzt niederbrannte oder zerfloss, was war der Unterschied? Am Tag versuchten wir unauffällig zu sein, uns nichts anmerken zu lassen. Wir waren ein Geheimnis. Und wir waren beide fein damit. Eigentlich machte es das Ganze noch reizvoller. Auf dem Campus warfen wir uns manchmal Blicke zu oder unscheinbare Gesten, die wir wie Codes dechiffrieren konnten. Den rechten Zeigefinger zu heben, bedeutete: Kaffee nach der Uni. Das Senken des linken: Heute Nacht am Tor. Ein Lächeln stand für sich und wir wussten beide, was es hieß. Unsere Blicke waren Bindewörter, die jedem Lächeln noch mehr Tiefe gaben. „Ich liebe dich“ wurde so zu „Ich brauche dich“. Wir hielten uns für unglaublich gerissen, wobei wir im Nachhinein vielleicht doch etwas auffälliger waren, als wir es erst glaubten zu sein.
Die Zeit war kein Freund von uns. Die Tage verstrichen schnell, die Nächte noch schneller. Jede Stunde war nur geliehen. Wir wussten, dass wir sie irgendwann zurückgeben mussten, dass sie mit Zinsen kam und wir einander am Ende länger missen müssten als wir uns kannten. Ich erwartete den Tag meiner Rückreise wie die Iden des März‘. Der letzte Tag in Rom war wolkenverhangen und trüb. Am Abend kamen die Austauschstudenten nochmal zusammen und wir feierten in einer großen Runde in einer kleinen, gemütlichen Bar, nicht etwa unseren Abschied, sondern vielmehr die Erinnerungen, die wir aus Italien mitnehmen durften. Ich hatte viele schöne Erfahrungen hier gesammelt, Freunde dazu gewonnen, gelernt, gelebt und geliebt. Ich dachte an unsere Erinnerungen. Deine und Meine. Das Wir, was wir waren und das es bald nicht mehr geben würde. Wir hatten uns darauf geeinigt keinen Kontakt mehr zu halten, sobald ich wieder in Deutschland wäre. Eine Fernbeziehung käme für uns nicht infrage, zu weit, zu schmerzhaft. Eine Freundschaft auch nicht, dafür waren wir zu viel. Für das, was wir waren, gab es noch keinen Begriff. Davon war ich überzeugt. Ich nahm deinen Blick von der anderen Seite des Tisches wahr. Du schienst nicht nur melancholisch, sondern regelrecht besorgt zu sein. Mit einer raschen Geste gabst du mir zu verstehen, dass ich dir zur Tür folgen sollte. Draußen war es still – wieder eine dieser lauen Nächte, in denen wir uns für gewöhnlich liebten, aber heute nicht, nicht auf diese Weise. Du sahst verlegen aus, ja fast schon beschämt, deine Hände zitterten. Du sagtest mir, es gäbe etwas, das du mir beichten müsstest. Es würde mir nicht gefallen. Du sagtest immer wieder, dass du dich schämtest, dass du nicht so ehrlich warst, wie du behauptet hattest zu sein. Du stolpertest über die Worte, deine Stimme brach mit jeder Silbe. Du wirktest beinah hysterisch. Ich erahnte, was dir auf der Zunge lag. Da ergriff ich deine Hand und zog dich zu mir heran. „Was es auch ist, sag es bitte nicht.“, „Hai il diritto di saperlo“ du hast ein Recht darauf, es zu wissen. Ich schüttelte mit dem Kopf. Mir stiegen Tränen in die Augen. „Was es auch ist, ich schwöre es dir, ich möchte es nicht wissen. Wenn die Erinnerung doch alles ist, was ich von dir behalten kann, dann lass sie bitte unbefleckt. Mach sie mir jetzt nicht bitter, nicht an diesem letzten Abend. Lass alles, was gewesen ist, in meinen Erinnerungen ruhen, so wie es war. Ich bitte dich. Denn ich liebe dich und egal, was du mir jetzt sagen willst, ich würde dich immer noch lieben. Also lass mich mit dem Wissen gehen, dass du mich auch so geliebt hast.“, „Ce l‘ho, ce l‘ho!“, das habe ich, das habe ich!, sagtest du „Va bene. Dann weiß ich alles, was ich wissen muss.“, Ich fasste mit meinen Händen dein Gesicht, drückte einen Kuss auf deine weichen Lippen und legte meine Arme um deinen Hals. Tränen rannen mir über die Wangen. Dir auch. Wir wussten beide nicht so recht, woher sie kamen – vom Abschied oder vom Verrat, über den wir schwiegen? Dann umarmtest du mich, lange und fest. Eine besondere Umarmung, so herzlich und innig. Ich spürte dein Schluchzen an meiner Brust, wie deine Hände sich an meinen Rücken klammerten, deinen zitternden Atem. Meine Tränen liefen auf deiner Schulter zusammen und hinterließen einen dunklen Fleck auf deinem Hemd. Dann sahen wir uns wieder an und küssten uns.
Am Tag der Abreise begleitetest du mich nicht zum Flughafen. Wir hatten unseren Abschied schon. Als das Flugzeug startete, hob sich mit ihm meine Seele. Das Gefühl als die Maschine sich vom Boden löste, kam dem eines Sprungs ins Wasser gleich. Ein Gefühl der Schwerelosigkeit, was sich um meinen Körper legte und ihn mich kurz vergessen ließ. Als wäre ich nur Geist. Als gäbe es die Erde und ihren Kummer nicht. Kein Heute, kein Morgen und keine Ewigkeit. Und die Vergangenheit schien nur ein Traum zu sein.
"Phaedra" von Alexandre Cabanel; public domain
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