Vom Genießen
- Annabell S.
- Mar 31
- 5 min read
Updated: Apr 28
Das Morgenlicht schien durch die Fenster ihrer kleinen Pariser Sutdentenwohnung. Sie war schon lange wach gewesen, als endlich die ersten Sonnenstrahlen über die Dächer kletterten. Louise stand jeden Tag um Punkt Sechs Uhr auf. In den vergangenen Jahren hatte sie die seltsame Angewohnheit entwickelt den Tag zu solch unmenschlichen Zeiten zu beginnen. Wacht sie vor Sechs Uhr auf, dreht sie sich gegebenenfalls noch einmal um, schätzt im Halbschlaf die Zahl der Minuten ab, die vergangen sind und erhebt sich dann pünktlich zur vollen Stunde.
Die dadurch gewonnene Zeit, kann Louise jedoch schlecht nutzen. Ihr Gehirn hat zu Beginn des Tages noch nicht so Recht verstanden, dass es bereits arbeiten soll, somit entfallen mögliche Aufgaben, die Konzentration erfordern könnten, wie lernen, zeichnen oder schreiben. Stattdessen liest Louise bis zum Sonnenaufgang etwas Leichtes, wie die Zeitung vom Vortag oder sie übt Klavier, solange sich keiner der Nachbarn beschweren kommt.
Sie ist nun seit fast drei Monaten in Paris und spricht Französisch, trotz Vorkenntnissen, immer noch wie eine Anfängerin. Wenn dann also ihr Nachbar im Morgenmantel an die Tür hämmert, weil sie zu früh begonnen hat Liszt zu üben und er sie fragt: „Pourquoi ce bruit?“, Was soll der Lärm? Dann antwortet sie nur: „Je suis desole monsieur“, Es tut mir leid Monsieur, und hört auf zu spielen.
Louise studiert Kulturwissenschaft und hat sich vor einem Jahr dazu entschlossen ihr fünftes Semester in der westeuropäischen Metropole zu verbringen. Warum ausgerechnet Paris? Ganz einfach: für den Flair. Die Idee von der Stadt war kaum geboren, da malte sie sich schon aus, wie es sein würde ein halbes Jahr hier zu verbringen. Eine Herausforderung sollte es sein, etwas Neues. Frische Luft und Fremde. Das war es, wonach sie sich gesehnt hat.
Dass die Studentenwohnung des Austauschprogramms über ein Klavier verfügte, war reiner Zufall gewesen. Louise hatte seit Jahren nicht mehr Klavier gespielt. Ab und an hatte sie nur ein paar Lieder, die ihr in Erinnerung geblieben waren, wiederholt, wenn es ihr in den Fingern kribbelte. Aber hier ist ihre Begeisterung für diese Kunst wieder aufgeflammt. Dafür zeigt sie enormen Fleiß. Diesen steckt Louise zweifelsohne auch in ihr Studium und ihre Arbeit. Seit einigen Wochen hilft sie in einem Café am anderen Ende der Stadt aus. Der Weg dorthin, die lange Fahrt mit der Metro, ist mühselig. Aber Louise hat gelernt sich zu arrangieren. Louise gewöhnt sich an alles: An das tägliche Aufstehen um Sechs Uhr morgens, an das regelmäßige Klavierüben, das vom Nachbarn auf Französisch begrüßt und beschimpft werden, an das gelegentliche Vermissen der Heimat und an die lange Fahrt mit der Metro. Louise war eine eigenständige, erwachsene Frau mit ihren einundzwanzig Jahren. Das wollte sie zeigen und beweisen, vor allem sich selbst.
Pierre sah sie als Frau, das wusste sie. Seine subtil eingestreuten Annäherungsversuche waren leicht als solche zu demaskieren, auch wenn er dabei vermutlich diskret wirken wollte. Pierre studierte an der gleichen Universität und im gleichen Fach, wie Louise. Sie kannten sich aus einigen gemeinsamen Seminaren. Zwischen ihnen hatte sich über die Monate hinweg eine gute Freundschaft entwickelt. Als er jedoch damit begann Louise immer öfter zu einem Kaffee einzuladen und ihr hin und wieder aus irgendeinem an den Haaren herbeigezogenen Anlass Blumen zu schenken, dämmerten ihr seine Intentionen. Das alles störte sie allerdings nicht. Im Gegenteil, sie zog aus dieser Liebelei eine Menge Bestätigung und genoss die Aufmerksamkeit. Vielleicht würde sie Pierres Gefühle bald erwidern, vielleicht würde er sich bald langweilen und einer Anderen Blumen kaufen. Liebe verfliegt wie der Frühling.
Von sich solle sie erzählen, bat Pierre sie bei ihrem ersten Treffen. Sie lud ihn zu sich ein. Sie war frisch in Paris angekommen, hatte sich gerade eingerichtet und brauchte die Gesellschaft. Louise hatte noch Pasta vom Vortag übrig – kein sonderlich galanter Zug als Gastgeberin, aber schließlich war das auch kein Rendezvous. „Ich habe noch Wein im Schrank“, wollte sie sagen, aber ihr fiel das Wort für Schrank nicht ein. „Parfait“, sagte Pierre, lächelte und winkte ihr mit einer Schachtel Zigaretten zu. Zu zweit verbrachten sie viele solcher Abende. Manchmal auch außerhalb. Manchmal waren es ganze Nachmittage. Louise erzählte von Deutschland und den Eigenheiten seiner Bürger, Pierre erzählte von Frankreich und seiner Kindheit in der Provence. Louise schwärmte für Südfrankreich. „Wenn es Sommer wird“, sagte Pierre, „Und der Lavendel blüht, dann fahr mit mir in den Süden, mon cherie.“. Als er das damals zu ihr sagte, war der Sommer noch fern. Nun war es schon April geworden und die Parks und Aleen von Paris blühten.
Vierzehn Uhr. Louise war fertig mit ihrer Schicht. Ihr Französisch reichte mittlerweile aus, um die Bestellungen der Kunden entgegenzunehmen und sie anschließend zu bedienen. Sie hatte das Gefühl, dass sie hier die Sprache besser erlernen könnte als in irgendeinem stickigen Seminarzimmer. Auf jeden Fall lernte sie hier mehr Flüche. Vor dem Café wartete Pierre auf sie. „Mon cherie, your boyfriend?“, die Kolleginnen zerrissen sich die Schnäbel darüber, wann immer ein Mann zu ihrem Schichtende auf Louise wartete und das war nicht immer Pierre. Sie hatte bereits einige männliche Bekanntschaften in der Stadt gemacht. Keine davon war jedoch sonderlich nennenswert gewesen. „Un cafe avec moi?“, fragte Pierre und gab ihr wieder einen aus. „I‘ll make you poor“, protestierte Louise, „Oh, you need to learn French, mon cherie, it sickens my heart!“, er hatte diesen sonderbaren Hang zur Melodramatik, den Louise aber sehr charmant fand.
Nach dem Kaffee gingen sie zu ihm und bereiteten sich dort gemeinsam auf einige Seminare vor. „Cigarette?“, fragte Pierre und sie gingen auf den Balkon. Eigentlich war Louise ja nur Gelegenheitsraucherin, aber die Stadt brachte da so ihren Zwang mit sich. Wie sie zurechtkomme, fragte er. Womit? Mit allem. Sie arrangiere sich, antwortete sie. Pierre nickte, „I do that too, recently.“. Der Rauch ihrer Zigaretten wickelte sich um die tiefstehende Abendsonne.
Neue Bekanntschaften? Louise lachte. Nein, weshalb er frage? Neugierde. Aha.
„Would you consider me an acquaintance?“, sie drückten beide ihre Zigaretten aus, „Perhaps“, antwortete Louise, aber er sei mehr als eine Bekanntschaft, „A friend“, Pierre lächelte. Er sah Louise lange an und sie erwiderte seinen Blick. „Are you mad?“, fragte sie. Er schüttelte den Kopf. „Just curious“, er ging einen Schritt auf sie zu. „Can I be curious?“, „By all means.“
Da lagen Pierres Lippen plötzlich auf ihren und sie wehrte sich nicht dagegen. Sie hatte bei seinen kleinen Flirts bislang gerne mitgespielt. Insgeheim hatte sie gehofft, er würde ihr bald ein Zeichen dafür geben, dass er es damit ernst meinte. Sie küssten sich lange, lehnten sich tief ineinander. Körpersprache war universal verständlich. Sie sagten, sie wollen auf der Couch weitermachen. Also ließen sie sich fallen, ohne die Balkontür vorher zu schließen. Sie wollten ihre Körper lesen, versuchten Gleichnisse und Verse auf ihnen zu finden, in einer Sprache, die sie beide sprechen würden. Sie logen nicht in ihren Berührungen, sie waren ehrlich und lange schon nötig gewesen. Pierre versuchte ein Lächeln zurückzuhalten, als Louise ihn spielerisch am Hals küsste. Kleider landeten verstreut auf dem Boden, fern von den Körpern, zu denen sie gehörten. Die kühle Abendluft des jungen Aprils zog durch den Spalt an der Balkontür herein. Aber die Hitze ihrer Körper ließ keine Kälte zwischen sie kommen. Da waren nur noch Wärme und Küsse und Berührungen. Da war nur noch das so flüchtig erscheinende Gefühl der Verbundenheit und genussvolles Stöhnen. Bis es an der Wand zur Nachbarwohnung hämmerte und jemand rief: „Pourquoi ce bruit?!“ und beide fanden im Lachen die Antwort nicht. Das Klopfen hörte auf und auch ihre Herzen schlugen wieder langsamer, beruhigt und aufgehoben. Sie zündeten sich eine Zigarette an und teilten sie miteinander. Dazu verließen sie nicht das Zimmer, nicht die Couch, auf der sie gerade so etwas wie Liebe gefunden hatten. Pierre flüsterte etwas vor sich her, für das Louise nicht alle Vokabeln kannte, nur das kleine Wort „für immer“ verstand sie. Sie schwieg, zog den Rauch in ihre Lunge, sodass es brannte und sagte dann: „Pour l‘instant“
Für den Moment.
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