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Brücken

  • Writer: Annabell S.
    Annabell S.
  • 5 days ago
  • 3 min read

Diese Sommernacht ähnelt jenen, die ich im letzten Jahr so sehr geliebt habe. Da war im späten Juni die Abenddämmerung meine Rettung gewesen. Gerade sitze ich auf der Überführung einer Autobahn. Die Luft ist lau, der Asphalt warm. Ich stolpere unvorhergesehen über den Gedanken, dass ich zur selben Zeit im vergangenen Jahr, ein anderer Mensch gewesen sein muss. Nach näherer Überlegung, finde ich diese Vermutung bestätigt; ja, sie muss sich ganz zwangsläufig bewahrheitet haben, unter Anbetracht der Dinge, die zwischen diesen beiden Sommern geschehen sind. Da war Einiges los, da war mancher Schmerz. Ich streife mit meiner linken Hand nachdenklich über meine rechte Schulter. Ob alte Wunden wieder aufreißen können, wenn man sie schlecht behandelt? Auch wenn sie schon vernarbt sind? Vielleicht wenn man unachtsam ist, können sie dann wieder beginnen zu bluten? Ich denke an den letzten Sommer. Einen Augenblick lang frage ich mich, was ich sagen würde, wenn er mir plötzlich gegenüberstünde, dieser Mensch, in Fleisch und Blut, den mein Unterbewusstsein soeben heraufbeschworen hat. Wüsste ich wie ich ihm zu begegnen habe? Könnte ich ihm raten? Oder würde ich angesichts seiner nur ohnmächtig schweigen?


Ich sitze auf dem Asphalt der Autobahnbrücke und zünde mir eine Zigarette an. Das hat sich nicht geändert. Sehnsuchtsvoll und einsam-romantisch betrachte ich den sich allmählich verfärbenden Himmel. Beim Spazierengehen am Abend, laufe ich immer gen Westen. Stets treibt mich etwas in diese Richtung – womöglich der Wunsch, die Sonne langsamer untergehen zu sehen, den Tag hinauszuzögern, mir vorzuspielen, ich hätte mehr Zeit. In der Ferne leuchten in einem warm-weißen Licht die Kacheln einiger Hochhäuser vor einem verblassenden Horizont. Auf den vier Spuren unter mir fahren ruhelos Autos. Mit ein wenig Fantasie kann ich mir die Scheinwerfer und Rücklichter als Glühwürmchen vorstellen, die gegeneinander ein Wettrennen oder vielleicht einen Staffellauf führen. Fast gänzlich vom Lärm der rasenden Lichter übertönt, höre ich Grillen zirpen. In der Luft liegt ein Hauch von Korn, es riecht nach Feldern und verblühenden Bäumen.


Ich denke noch weiter zurück, an den Sommer vor zwei Jahren, damals noch auf dem Land. Die Zeit als ich mit dem Fahrrad zwischen Gerstenfeldern und Waldwegen entlangfuhr. Auch daran denke ich mit einer gewissen Nostalgie, die mich kurz sehnsuchtsvoll werden lässt. Aber das Bild von dem Menschen, der dort entlangfährt, verschwimmt ebenso schnell wie es erschienen ist. Es wird nicht einmal scharf. Es entzieht sich mir. Dieser Mensch ist zu weit entfernt, zu weit hinter mir. Nun muss ich gestehen, dass ich mir auch alle Mühe gegeben habe, ihn abzuhängen. Manchmal befürchte ich, ich habe mehr in der Vergangenheit gelassen, als mir lieb ist. Häufig kommt mir das Gefühl, dass sie mich einholt. Auf dem Fahrrad vielleicht? Die Wald- und Feldwege aufwärts trampelnd, keuchend, schwitzend, traurig. Wenn sie versucht mich an der Schulter zu berühren, schlage ich ihr auf die Finger. Ich schreie „Geh!“ und nehme noch einen Zug.


Der Wind frischt auf, ich sollte langsam heimgehen. Ich merke, wie sehr ich die Stadt liebe, wie groß die Angst ist, zu verlieren, was ich liebgewonnen habe, wie hoch der Druck, zu nutzen, womit ich beschenkt worden bin. Reicht es aus? Tu ich genug? Bin ich genug? Da ist niemand, der mir das beantwortet – und ich kann keinen Schlussstrich ziehen. Zuhause werde ich meine Schuhe von mir streifen, die Blasen an meinen Füßen verarzten, mir den Maskara von den Augen wischen und das Gesicht waschen. Im Spiegel werde ich dann dem Menschen begegnen, der ich schon immer sein wollte. Und sein Anblick wird mich kurz mit Stolz erfüllen. Später im Bett werde ich dann darüber nachdenken, wie sehr mir dieser Mensch manchmal verhasst ist. Im Schlaf werde ich Ruhe finden. Ich werde nicht träumen. Am nächsten Morgen besteht dann die Chance, dass ich aufwache, mich frisch mache und anziehe, zur Uni laufe und mich nicht einmal daran erinnern kann, je an mir gezweifelt zu haben. Aber letztlich am Abend dann, auf eben derselben Brücke, werde ich ein Fahrrad lehnen sehen. Und dort wird sie wieder auf mich warten.


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