top of page

Kontingenz des Seins

  • Writer: Annabell S.
    Annabell S.
  • May 4
  • 3 min read

Monotone Tage haben eine Vorhersehbarkeit an sich, die ich als überraschend wohltuend empfinde. Zwischen dem Trubel des Alltags und dem Gewirr meiner Gedanken, die sich momentan mit Terminen und Deadlines überschlagen, mit Dingen, die ich mir vorgenommen habe, die auf mich zukommen, die ich vorbereiten, vervollständigen, beenden muss, bis es zu den nächsten Dingen geht, die auf der anderen Seite des Kalenderblatts geschrieben stehen, habe ich vergessen wie sich Stille anfühlt. Aber manchmal werde ich an sie erinnert. Beispielsweise an einem verregneten Samstagmorgen im April, an dem ich das Fenster öffne und die ganze Welt sich für einen kurzen Augenblick der Mannigfaltigkeit der Dinge hinzugeben scheint. Der Duft der warmen, nassen Erde trägt eine süßliche Note. Ich strecke die Hand aus und fange ein paar Tropfen. Der Himmel ist wolkenverhangen, die Stadt schweigt. Und in diesem Schweigen finde ich das „Jetzt“ nach dem ich ständig auf der Suche bin.

Aber auch die schnellen Tage haben ihre Glanzstunden, in denen ich mich geradezu unantastbar fühle, wo das Fortschreiten der Zeit nicht Bitterkeit, sondern Erlösung bedeutet. Ein drastisches Aufatmen, ein Erheben über die Stille hinweg zur Lebendigkeit, dem ein sachtes Ausatmen am Ende des Tages folgt, ein Kräftesammeln. Das sind die Tage an denen ich erschöpft, aber zufrieden ins Bett gehe, wissend, dass dieser kurze Tod mich am nächsten Morgen wieder auferstehen lässt.

Abseits von alledem gibt es aber auch noch die schlechten Tage, die sowohl monoton als auch schnelllebig sein können. Sie sind still, aber nicht wie jene verträumten Frühlingsmorgen, sondern eher wie ein Vakuum. Ein Raum ohne oben und unten, ohne Zeit, deshalb auch ohne spürbaren Anfang und ohne ersichtliches Ende. Diese Tage fühlen sich an wie Bestrafungen, wie das Herannahen einer Katastrophe, der Abend vor der Sintflut. Sie kommen, sie vergehen, und obwohl ich mir dessen bewusst bin, finde ich mich, wenn sie einmal da sind, stets in ihrer Mitte wieder, wie im Auge des Sturms und dort bin ich haltlos. Dort kann mich nichts erfreuen, weder Musik noch Literatur, kein gutes Essen, kein Sonnenstrahl, kein Wolkenbruch; der Gesellschaft bin ich überdrüssig und das Alleinsein macht mich einsam. An diesen Tagen sehne ich mich, selbst wenn die Sonne im Zenit steht, nur nach Schlaf, nach jenem raschen Tod, der eine neue, eine andere Zeit verheißt, ein Erwachen, das mir die Machtlosigkeit nimmt und mich sein lässt, wie ich es gerne immer wäre: selbstsicher, erwachsen, präsent. Einfach völlig da. Stattdessen bin ich, wie es im Englischen heißt, „out of it.“. Und so verbringe ich dann die Stunden, die sich in die Endlosigkeit zu dehnen scheinen (auch sie sind Teil des Universums), geduldig und mit dem höchstmöglichen Maß an Anstand, was jedoch von Beginn an kein sonderlich hohes Maß ist. Wenn sich der Tag dann nicht ins Unerträgliche zieht, zur Nacht wird und die Nacht sich mir nicht verfeindet, sondern mir den ersehnten Schlaf beschert, dann kann ich mich gewissenhaft niederlegen und auf ein besseres Morgen hoffen.

Manchmal überrascht mich die Vielfältigkeit der Dinge. Ein Tag ist keine Zeit. Ein Tag ist erträglich. Ein Tag geht vorbei. Aber was alles an einem einzigen Tag geschehen kann, darüber machen wir uns seltsamer Weise sehr wenig Gedanken. Wir sind uns nicht immer dem Ausmaß der Dinge bewusst, es wird erst für uns spürbar, wenn es sich uns offenbart. Entweder in einer Katastrophe oder in einer unverhofften Gnade (einer Freude). Die meiste Zeit aber schlummert es. An eben jenen vom Alltagstrott durchfurchten Tagen, liegt es vor unseren Augen versteckt an einem Ort, an den unser menschlicher Einfluss nicht hinreicht. Manchmal aber können wir einen Blick darauf erhaschen. Wenn wir beispielsweise einen Berg besteigen, von dem aus man weit über die Landschaft sehen kann, hinab auf Städte, Felder, Dörfer und den Horizont säumende Wälder, dann können wir dieses Ausmaß erahnen. Wir stehen da und schweigen und sehen auf all die verschiedenen Schicksale hinab und denken vielleicht für einige Sekunden an all die Schicksale, die sich zu diesem Zeitpunkt simultan auf der ganzen Welt ereignen, jedem einzelnen Menschen, an genau diesem einen Tag, der für jeden ein völlig anderer ist.

Ich heiße sie also willkommen: die guten und die schlechten Tage, die monotonen, die mir Gleichgewicht bescheren und die schnellen, die mir erklären, dass Stagnation nur eine Illusion ist. Ich heiße die Tage willkommen, die mich Genügsamkeit lehren und die die mich wachsen lassen. Ich danke Gott für jeden einzelnen von ihnen und schlafe so letztlich beruhigten Gewissens ein.


Recent Posts

See All
Brücken

Diese Sommernacht ähnelt jenen, die ich im letzten Jahr so sehr geliebt habe. Da war im späten Juni die Abenddämmerung meine Rettung...

 
 
 
Wandelbar

Ich streife mit meinen Fingern durch mein Haar, vergrab‘ sie tief in meinen braunen Strähnen. Ich nehme einen Stift und drück nervös auf...

 
 
 

Comments


© 2021 by Annabell K. (@myriaden.lyrik) | All rights reserved

Proudly created with Wix.com

bottom of page