Erinnern
- Annabell S.
- Jul 13
- 3 min read
Das Mädchen, das in meiner Tür steht ist zehn, elf, höchstens aber zwölf Jahre alt. Sie trägt einen rosafarbenen Pullover, auf den mit Pailletten ein Stern genäht ist. Sie hat lange, braune, ungekämmte Haare und einen kleinen Leberfleck an ihrer rechten Wange. „Ich möchte ein Paket für Weber abholen“, sagt sie mir und klingt dabei sehr höflich. Ich lächle und reiche dem Mädchen das Paket. Sie bedankt sich, lächelt ebenfalls und verschwindet dann die Treppen hinauf.
Auch wenn es dafür augenscheinlich keinen Grund gibt, habe ich Mitleid mit dem Mädchen. Ich weiß nicht mehr über sie, als dass sie die Tochter meiner Nachbarin ist, die nie (wirklich nie) zuhause ist, wenn der Paketbote klingelt. Nun ist es allerdings so, dass, wenn ich dieses Mädchen ansehe, ich mich an die Zeit zurückerinnere, als ich in ihrem Alter war. Ein schwieriges Alter. Nicht nur für diesen kleinen naiven Menschen, der denkt, er hätte die Welt verstanden und alle müssten jetzt nach seiner Pfeife tanzen, sondern auch für alle Beteiligten um ihn herum, die bei seinem rebellischen Selbstfindungsprozess in Mitleidenschaft gezogen werden. Das ist das Alter, in dem man allmählich beginnt die Kindheit hinter sich zu lassen, in dem man erwachsen werden möchte. Dies ist häufig ein langwieriger, zugleich aber radikaler Prozess. In den Jahren, die in all ihrem Glanz und mit all ihren Möglichkeiten noch vor einem liegen, für die in diesem Alter ein ganz besonderes Interesse entflammt, werden Jahre des Umdenkens, des Scheiterns und Siegens werden. Für manche mehr das eine, für andere mehr das Andere. Wenn ich dieses Mädchen ansehe, denke ich an all die Lektionen, die es noch vor sich hat, an all den Schmerz und all die Verwirrung, an all die Hürden, die es überwinden muss, um zur Frau zu werden. Ich erkenne mich selbst in diesem Mädchen, ihrem Gesicht, das weder wahren Hass noch Schmerz zu kennen scheint, in ihrem rosafarbenen Pullover mit dem Stern und ich sehe, dass ich sie nicht retten können werde, vor dem was folgt.
Als ich fünfzehn war, habe ich zum ersten Mal den Tod erlebt. Das klingt beinahe wie ein Oxymoron, und vermutlich ist es auch eins. Den Tod kann man nicht erleben, den kann man nur sterben, aber den Tod eines Anderen, den erfahren wir, wenngleich auf eine andere Weise. Ich habe ihn erfahren und lebe seit jeher mit einer Lücke in meinem Herzen, die niemand mehr zu schließen vermag. Da wurde etwas aus der Welt gerissen, an einer Stelle, die man nicht wieder vernähen kann. Ich habe gelernt mit dem Schmerz zu leben, er ist nicht länger allzu präsent. Er ist eher wie ein Bekannter, der ab und an an meine Türe klopft. Nur leider holt er keine Päckchen ab, sondern gibt schlimmsten Falls noch welche dazu. Meistens aber setzt er sich schweigend neben mich, dann existieren wir zu zweit, aber wahnsinnig einsam in einem scheinbar luftlosen Raum, bis ich mich daran erinnere zu atmen und er schließlich geht. Bis es so leicht geworden ist wie es heute ist, hat es Jahre gedauert. Und dennoch drückt der Schmerz mich manchmal noch nieder. Als ich fünfzehn war brach eine Welt zusammen, an deren Unerschütterlichkeit ich bis dahin nie gezweifelt hatte. Mit zwölf hätte ich das nie erahnen können. Ich hätte nie erahnen können, wie tief ich mich mit Gott hätte befassen, wie viele Philosophen ich dann hätte lesen müssen, um zu lernen mit diesem Schmerz zu leben.
Ich erkenne mich selbst in diesem Mädchen, ihrem Gesicht, das weder wahren Hass noch Schmerz zu kennen scheint, in ihrem rosafarbenen Pullover mit dem Stern und ich sehe, dass ich mich nicht hätte retten können, vor dem was folgte. Und auch sie wird sich nicht retten können vor den Wellen, die das Leben an ihre Küste spülen wird. Sie kann die Wogen nicht erahnen, in denen sie sich wiederfinden wird. Diese Wogen können unfassbar schön, aber auch unglaublich schrecklich sein. Ich habe Mitleid mit ihr, weil sie noch nicht weiß, was auf sie zukommt – ich wusste es auch nicht. Aber alles, was geschieht, wird sie ein kleines bisschen stärker machen, das weiß ich.
Ja, ich sehe mich selbst in diesem Mädchen und jedes Mal, wenn ich ihr wieder ein Paket in die Hand gebe, wünsche ich ihr leise, allein mit einem Lächeln auf den Lippen, welches sie vielleicht gar nicht wahrnimmt, von Herzen, „Alles Gute“.
Bild: "Das fließende Wasser" von Abel-Dominique Boyé; public domain
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